Der Stil des 19. Jahrhunderts, der Historismus, umfasst etwa die Zeitspanne von 1830 bis 1900. Die gesamte hier behandelte Bahnhofsarchitektur könnte man also unter der Bezeichnung "historistisch" zusammenfassen. Der Historismus beinhaltet jedoch eine ganze Reihe von Stilen, die teilweise parallel zueinander verliefen und sich teilweise gegenseitig ablösten. Dieses "Stilchaos" macht einen Überblick über das 19. Jahrhundert natürlich besonders schwer. Gleichwohl ist eine Zusammenfassung der Architekturentwicklung für die zu behandelnde Thematik unumgänglich. Sie kann natürlich nur ganz vereinfachend dargestellt werden und berücksichtigt vor allem die Tendenzen, die für das gestellte Thema relevant sind.   Das Kennzeichen des Historismus, die Verwendung der verschiedensten Stile nebeneinander, wurde zum ersten Mal in englischen Landschaftsgärten seit etwa 1730 praktiziert. Neben "antiken" und "gotischen" Architekturen wurden nun auch vor allem vorderasiatische und chinesische Einflüsse aufgenommen. Dieser "Stilpluralismus" entwickelte sich aus der immer besseren Kenntnis der europäischen Stile und den entstehenden Beziehungen zum Osten heraus. Dabei verband man mit den unterschiedlichen Architekturen bestimmte Inhalte. Die Antike vertrat zum Beispiel Weisheit und Tugend, Bauernhäuser standen für das einfache Leben und die "östlichen" Stile sollten orientalisch und exotisch wirken. Bei der Neugotik spielte auch die "romantische" Bewegung ein Rolle, die eine Hinwendung zur Natur, zur Religion und zum Mittelalter zum Inhalt hatte und die sich in der Errichtung von künstlichen Kirchenruinen ausdrückte. Bis 1830 dominierte der Klassizismus, der zwar nicht zum Historismus gerechnet wird, aber genaugenommen der erste der historistischen Stile ist. Ab etwa 1830 wurden dann die dem Historismus angehörenden Stile vorherrschend. In den dreißiger Jahren breitete sich in Deutschland der Rundbogenstil aus. Dieser spielte eine bedeutende Rolle im Bahnhofsbau, da seine Ausbreitung fast zeitgleich mit der Entstehung der ersten Bahnlinien und damit auch der ersten Empfangsgebäude geschah. Es scheint also angebracht, auf diesen Stil etwas genauer einzugehen.  Der Rundbogenstil oder der "romantische Historismus" wurde vor allem von Heinrich Hübsch (1795-1863) propagiert und verbreitete sich seit den dreißiger Jahren in ganz Deutschland. Er richtete sich gegen den bis dahin vorherrschenden Klassizismus mit seiner Anwendung antikischer Formen. Hübsch forderte Funktionalität und Wirtschaftlichkeit in der Baukunst und lehnte deshalb den Rückgriff auf die griechische Kunst ab, weil sie aufgrund ihrer Bauweise nicht geeignet für westeuropäische Bauten sei. Neben den ganz verschiedenen Verwendungszwecken sei es auch wegen der unterschiedlichen Baumaterialien unsinnig, die griechische Säulen-Architrav-Bauweise zu pflegen. Der Buntsandstein fordere vielmehr Gewölbe, die eine wesentlich einfachere, zierlichere und billigere Bauweise ermöglichten, da man damit auch mehrstöckige Gebäude und sehr große Räume überdecken könne. Das kältere und feuchte Klima erfordere zudem einen sorgfältigeren Schutz der Bauten durch steilere Dächer und entsprechende Gesimse.  Die römische Architektur lehnte Hübsch gänzlich ab, vor allem wegen der Verbindung von Pfeilern und Bogen mit Halbsäulen und Gebälken (sogenanntes Theatermotiv). "Doch bald drängt sich dasselbe (das Gewölbe) auch auswendig auf und zwar mitten zwischen die Säulenstellung hinein; so dass es hier den wesentlichen statischen Dienst allein übernimmt, und dass letztere zur bloßen Schein- und Paradearchitektur herabsinkt...".  Demgegenüber stellte Hübsch vor allem die frühchristliche und mittelalterliche Architektur als vorbildlich für das neunzehnte Jahrhundert heraus, da sie in großen Teilen seinen Forderungen entspräche: Steingewölbe und Bogenstellungen über allen größeren Öffnungen (Rund- oder Segmentbogen) - keine vorgetäuschten Konstruktionen durch nicht tragende Halbsäulen und Gebälke - der Dachdeckung angepaßte, relativ steile Dachschräge - Gesimse, die die Gebäude möglichst gut vor Regen schützen - Verzierung als "Bekränzung der wesentlichen Teile".  Den Spitzbogen lehnte Hübsch weitestgehend ab, da er für die modernen Anforderungen nicht geeignet sei.  Dementsprechend schlicht treten auch die Bauten Hübschs vor uns, die sich durch eine sehr massive Bauweise und Materialechtheit auszeichnen. Der von ihm vor allem verwendete Rundbogen gab dem Stil seinen Namen (Hübsch bezeichnete die Romanik als "Rundbogen-Style" ).   Der Rundbogenstil entwickelte sich nicht einheitlich, da er auf ganz verschiedenen Traditionen fußte: So dominierte im Rheinland Hübschs Auffassung von der italienischen und deutschen Neuromanik. Friedrich Eisenlohr (1805-54), zusammen mit Hübsch Schüler von Friedrich Weinbrenner in Karlsruhe und Erbauer vieler Empfangsgebäude der Badischen Eisenbahn, trat ebenfalls für einen "soliden, bescheidenen, aber niemals ärmlichen Baustil" ein.  In Berlin herrschte vor allem der Einfluß Karl Friedrich Schinkels (1781-1841), der heute häufig als der Klassizist schlechthin angesehen wird, aber in vielem den Rundbogenstil vorweggenommen hat. Hier entwickelte sich eine Art "romantischer Klassizismus".  In München wirkten Friedrich von Gärtner (1792-1847) und Heinrich Bürklein (1813-1872) im Sinne eines von der florentinischen Frührenaissance bestimmten Rundbogenstils. Bürklein ist gerade auch im Bahnhofsbau wichtig, da er unzählige Empfangsgebäude in Bayern errichtet hat. Der Rundbogenstil wurde, zusammen mit dem sogenannten "Maximiliansstil" bis etwa 1870 bei nahezu jedem Bahnhof in Bayern angewandt. Ausnahmen gab es nur, wenn das lokale Umfeld einen anderen Stil erforderte, wie z. B. in Nürnberg, wo König Ludwig I. 1841 angeordnet hatte, alle öffentlichen Gebäude im gotischen Stil zu erbauen. Nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der Gründung des Deutschen Reiches 1871 kam das Ende des zu schlichten Rundbogenstils. Das neu erwachte Nationalbewußtsein weckte ein stärkeres Repräsentationsbedürfnis und leitete den sogenannten "Gründerzeitstil" oder "doktrinären Historismus" ein.  In der Architektur waren nun sowohl pompöse Prachtentfaltung als auch Nationalbewußtsein gefragt. Man forderte den deutschen Stil und durchlief so fast alle historischen Stilrichtungen, die man gerade als besonders deutsch ansah. Die fortschreitende Kunstgeschichtsforschung und die Denkmalpflege trugen ihren Teil dazu bei, die historischen Stile und Techniken neu zu entdecken und wiederzubeleben.  Hinzu kam, dass man - wie schon bei den "englischen" Parkarchitekturen - die verschiedenen Stile mit bestimmten, subjektiv empfundenen Inhalten verband bzw. bestimmte Bauaufgaben in bestimmten Epochen als besonders geglückt gelöst ansah. Dabei spielten natürlich auch regionale und nationale Traditionen eine Rolle.  Ganz allgemein wurde die Gotik, die man als mittelalterlichen Stil als besonders fromm empfand, im Kirchenbau verwendet; der Barock als Ausdruck von Macht und Absolutismus fand in Schlössern und aufwendigen Privathäusern Verwendung; der "griechische" Stil und die italienische Renaissance als Ausdruck von schöngeistigem und demokratischem Denken taucht vor allem an Museen auf und die nordische Renaissance dagegen an Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden, da man diesen Stil hier als besonders typisch empfand. Nachdem es in Deutschland bereits Mitte des 18. Jahrhunderts vereinzelt neugotische Bauten gegeben hatte , beschäftigte sich nach 1800 vor allem die deutsche Romantik mit der Gotik.  Zunächst nur bei Sakralbauten, griff die Neugotik auch schnell auf die Profanbaukunst über. Vor allem mit der Vollendung des Kölner Domes ab 1842 erlebte sie eine Blüte. Besonders zu Beginn war dabei der Einfluß des englischen "Castellated Style" groß. Im Zuge des wachsenden Nationalbewußtseins versuchte man sich aber in der zweiten Jahrhundertshälfte auf eine "deutsche" Neugotik zu besinnen.  In den siebziger und achtziger Jahren nahm die Verwendung von gotischen Formen allgemein ab. Erst um die Jahrhundertwende tauchten wieder mehr gotische Formen auf, dann allerdings in einer freieren Anwendung.  Im Bahnhofsbau spielte die Neugotik eine geringere Rolle, wohl wegen der Unvereinbarkeit von gotischen Formen und Proportionen mit den mehr breiten als hohen Hallenkonstruktionen. So befürwortete Friedrich Eisenlohr zwar die Neugotik bei Sakralbauten , bei seinen Bahnhofsgebäuden tauchen jedoch niemals gotische Formen auf. Die Backsteingotik wurde dagegen erst von Alexis de Chateauneuf (1799-1853) im Zusammenhang mit der allgemeinen Wiederentdeckung des Backsteins aufgegriffen und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem durch die sogenannte "Hannoversche Schule" unter Conrad Wilhelm Hase (1818-1902) weitergeführt. In diesem Zusammenhang steht auch die "deutsche" Renaissance, zu der viele Schüler Hases übergingen. Wie ihr Vorbild mischte sie gotische Formen mit denen der itaienischen Renaissance. Als Verbindung von Antike und Mittelalter glaubte man darin den "echten, nationalen Stil" gefunden zu haben. Die deutsche Renaissance schien die ideale Verbindung zwischen repräsentativer, "italienischer" Monumentalität und "deutscher" Gotik zu sein.  Es entstanden seit den siebziger Jahren sehr prächtige und aufwendige Bauten, vor allem Rat-, Kauf- und Wohnhäuser. Gegen Ende des Jahrhunderts erreichte die "deutsche" Neurenaissance ihre höchste Blüte. Die italienische Neurenaissance breitete sich ab etwa 1860 in Deutschland aus. Dabei stellt sie in formaler Hinsicht zumindest teilweise die Fortsetzung des oft italienisch geprägten Rundbogenstils dar.  Neben einer Übernahme italienischer Früh- und Hochrenaissanceformen waren sogar Nachahmungen oder Kopien von italienischen Palastarchitekturen üblich. Daneben wurden auch barocke Details verwendet, die übrigens auch an Gebäuden der "deutschen Renaissance" benutzt wurden.  Den Barock sah man noch bis 1885 als die Spätphase der Renaissance oder sogar als eine "Entartung" der Renaissance an. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurde er als eigenständiger Stil angesehen, was sich in einer immer stärkeren Durchsetzung neubarocker Formen niederschlug.  Vor allem in Preußen orientierte man sich nach 1871 an Frankreich, wo mit der Pariser Oper von Charles Garnier 1862-74 eine äußerst repräsentative Mischung aus Renaissance- und Barockformen entstanden war. Viele der großen Bahnhofsbauten dieser Zeit besaßen denn auch französische Dachformen, monumentale Triumphbogen und pavillonartige Eckrisalte. Im Zuge der Wiederbelebung alter Techniken, entdeckte man im Historismus auch die Fachwerkbauweise neu. Nachdem man schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vor allem in England und Deutschland (Schinkels "Schweizer Haus" in Potsdam) immer wieder den schweizerischen Holzstil aufgegriffen hat, erlebte "die Idealisierung der schweizerischen Holzarchitektur" bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine erste Blüte. Friedrich Eisenlohr verwendete neben seinem italienisch beeinflußten Rundbogenstil bei seinen kleineren Bahnhofsgebäuden auch viele typische "Schwarzwaldmotive" und setzte sich für ein Wiederaufgreifen der volkstümlichen Bauweise ein. 1853 veröffentlichte er sogar den Sammelband "Holzbauten des Schwarzwaldes", um ihre Bauweise wiederzubeleben.  Nach 1871 brachte ein größeres Nationalbewußtsein dem Fachwerk als einer als typisch "germanisch" angesehenen Bauweise eine erneute Blüte. Im Zusammenhang mit der Kritik an der sich immer stärker durchsetzenden Massenproduktion, wurde seit etwa 1890 die Volkskunst wiederbelebt, die um die Jahrhundertwende in den "Heimatstil" oder die "Heimatkunst" überging.  Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden so auch im Bahnhofsbau viele kleinere Gebäude als Fachwerkbauten.

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