Merzig
Noch während der Arbeiten an der Saartalstrecke von Saarbrücken nach Merzig, wurden Überlegungen zum Bau des Merziger Empfangsgebäudes angestellt. Die Erbauungszeit kann sehr genau bestimmt werden, da im Jahr 1884 eine Kopie der Originalausführungszeichnung angefertigt wurde, die glücklicherweise erhalten ist. Diese Ausführungszeichnung mit Grundrissen, Schnitten und Ansichten war mit dem Datum April 1858 versehen und besaß die Unterschrift des Entwerfers, des Abteilungsbaumeisters Lieber. Mit dem Bau des Gebäudes muß also kurz nach diesem Termin begonnen worden sein.
Der rechteckige Grundriß des Erdgeschosses zeigt einen einzelnen Eingang in der Mittelachse, der in die große Vorhalle führt. Von hier gelangt man in die zwei Wartesäle, von denen der größere für die 3. Klasse sich links der Vorhalle, der kleinere für die 2. Klasse sich geradeaus befindet. Dazwischen liegt eine Küche, von der aus man die Fahrgäste in beiden Räumen bedienen konnte. Beide Wartesäle besitzen Ausgänge zum Bahnsteig.
Eine Kammer an der Ecke wird als Zimmer des "Perron-Dieners" bezeichnet, also der Aufenthaltsraum eines Bediensteten, der für die Bahnsteige zuständig war. Zur Rechten dieses Komplexes liegen die Räume des Fahrkartenverkaufs, der Gepäckaufgabe, des Telegrafen und des Stationsvorstehers, teilweise ebenfalls mit eigenen Ausgängen. An den beiden Schmalseiten befinden sich die Zugänge zu den Treppen, über die man ins erste Obergeschoß mit zwei getrennten Wohnungen kommt.
Wie bereits in Bexbach gibt es auch hier eine Trennung von öffentlichen Räumen und Dienstzimmern. Das große Vestibül vermittelt zwischen beiden Teilen; hier kauften die Reisenden die Fahrkarten und gelangten dann direkt in die Wartesäle und die Gepäckaufgabe. Durch eine genau gegenüber dem Eingang liegenden Tür konnte man schnell den Bahnsteig betreten. Aber auch der zweite Wartesaal besaß zwei direkte Ausgänge.
Dass keine Toilettenanlage angegeben ist, braucht nicht weiter zu verwundern: vermutlich befand diese sich auf den Bahnsteigen. Wegen des Geruchs hat man die Aborte oft vom Empfangsgebäude getrennt errichtet.
Das heutige Gebäude ist gegenüber den Ansichten der Ausführungszeichnung etwas verändert. Es existiert jedoch eine Fotografie aus dem Jahr 1893 , auf der zu sehen ist, dass der ausgeführte Bau den Entwürfen entsprach.
Es handelte sich um ein traufständiges Gebäude mit zwei Geschossen und neun Achsen in der Aufteilung 3-1-1-1-3. Sowohl an der Straßenfassade als auch an der Gleisseite war ein Mittelrisalit mit Frontgiebel ausgebildet.
Das Erdgeschoss war bandförmig gequadert und besaß einen Sockel, der aufgrund einer leichten Hanglage zur Straße hin zweistufig war und hier kleine Kellerfenster besaß. Im Erdgeschoss und auch im glatt verputzten Obergeschoss saßen die Fenster auf Sohlbankgesimsen auf. Dabei waren alle Fenster und Türen rundbogig, mit profilierten Rahmen, die im Erdgeschoss waren jedoch etwas größer. Die Türen waren wiederum breiter. Ein profiliertes Gurtgesims trennte die beiden Geschosse. Unter dem Dach verlief ein Gesims und unter den Traufen befand sich eine Frieszone. Auf der Zeichnung sind noch die Fensterchen des Dachgeschosses über dem Gesims zu sehen, die auf der Fotografie nicht zu erkennen sind.
Die mittlere Achse des Risalits sprang unter dem Giebel noch einmal vor. Über dem Ein- bzw. dem Ausgang befand sich je ein Zwillingsfenster mit Eckpilastern und einem vollständigen Gebälkstück als Bekrönung. Das Volutenkapitell der Halbsäule, die heute die beiden Fenster trennt, ist auf der Zeichnung nicht zu sehen. Im Giebel befand sich je ein Rundfenster. Über den Türen saßen "Konsolenbogen": aufgesetzte Leisten, die eine Halbkreis beschreiben und auf kleinen Konsolen enden. An diesem kleineren Risaliten verkröpfte sich das Gurtgesims, während die Sohlbankgesimse unterbrochen wurden.
Die Schmalseiten sind einachsig und wiederholten die Elemente der Risalite in etwas reduzierter Form, besaßen aber ein zusätzliches rundbogiges Zwillingsfenster darüber. Auch die Eingänge zu den Treppenhäusern besaßen die Bogenleisten, während sie an den anderen Zugängen auf der Gleisseite nicht erschienen.
Nach der Ausführungszeichnung sollten auf allen Giebeln des Satteldachs antikische Palmetten bzw. Halbmetten sitzen. Auf der Fotografie sind jedoch deutlich figürliche Akrotere, nämlich Greifen, auf den Giebelecken zu erkennen.
Am Außenbau wurden einige kleinere Änderungen vorgenommen: Erdgeschoss und Obergeschoss sind heute unterschiedlich verputzt und der Sockel ist nur noch durch die Farbgebung artikuliert. Sämtliche Sohlbankgesimse wurden entfernt und das Gebälk unter dem Dach ist auf ein Gesims reduziert. Die Fenster besitzen heute Fensterbänke. Der Eingang ist rechteckig mit einem halbrunden Oberlicht.
Seitlich wurden eingeschossige Anbauten angefügt: südlich ein zurückspringendes Gebäude mit Walmdach, das die Gaststätte enthält; im Norden schließt sich ein gangartiger Bau mit Flachdach und Blendarkaden an, der in einem Rundturm endet. Dieses Gebilde erinnert an eine mittelalterliche Stadtbefestigung mit Mauer und Wehrturm.
Die Fassade der Gleisseite ist durch ein Schutzdach über dem Hausbahnsteig kaum noch zu sehen. Das Dach wurde wohl um 1900 angebaut; die korinthischen Gusseisensäulen sind noch erhalten.
Über einen außerhalb des Gebäudes liegenden Personentunnel gelangt man auf die übrigen Bahnsteige. Heute muss der Reisende das Empfangsgebäude nicht mehr betreten, da man durch Durchgänge direkt auf die Bahnsteige gehen kann.
Der Typus des Rechteckbaus mit Mittelrisaltih und Frontgiebel stammt aus der Villenarchitektur der Hochrenaissance und entstand in dem Bemühen die antike Tempelfront mit dem Wohnhaus zu verbinden. Zur eigentlichen Blüte gelangte diese Form aber erst im Barock, der sie bei Palästen und Schlössern übernahm und so den Typus schuf, der zum Vorbild vieler Empfangsgebäude wurde.
Im Bahnhofsbau wurde er bei den meisten kleineren Empfangsgebäuden angewandt und ist auch im Saarland häufig vertreten. Die symmetrische Form kam in der Anfangszeit des Bahnbaus den wenig geübten Reisenden wegen seiner Übersichtlichkeit wohl am meisten entgegen. Bei großen Empfangsgebäuden kommt er dagegen fast nie vor. Als Beispiele für mittelgroße Bauten lassen sich das Empfangsgebäude der Ludwigs-Süd-Nord-Bahn (Hbf) in Fürth um 1865 und das Empfangsgebäude der Ludwigs-Eisenbahn in Nürnberg von 1872 anführen.
Der Stil des Bahnhofsgebäudes von Merzig ist ein Rundbogenstil mit klassizistischen Elementen. Offenbar in bewusster Anlehnung an die griechische Antike wurden ursprünglich Akrotere aufgestellt. Diese kommen in einer derartigen Aufstellung ausschließlich an griechischen Tempeln und Stelen vor und wurden in keinem der nachfolgenden Stile mehr auf diese Art und Weise benutzt.
Die einfachen Fenster dagegen sind ganz typisch für den Rundbogenstil.
In vieler Hinsicht dem Merziger Gebäude sehr ähnlich ist das Empfangsgebäude des Eschweiler Hauptbahnhofs, das um 1860 von der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft erbaut wurde.
Abgesehen von dem gleichen Bautyp wurde auch in Eschweiler ein "klassizistischer Rundbogenstil" angewendet: das ebenerdige Erdgeschoss ist ebenfalls gequadert und besitzt Rundbogenöffnungen, das erste Obergeschoss ist in Eschweiler jedoch in der Art einer Beletage betont durch aufwendigere Rechteckfenster, die im Risalit Dreiecksgiebel besitzen. Wie in Merzig erscheint ein Gurtgesims und ein schwächeres Sohlbankgesims. Anstelle der Rundfenster besitzt das Eschweiler Gebäude die runde Bahnhofsuhr. Auch die auf der Merziger Ausführungszeichnung angegebenen Dachgeschossöffnungen kommen in Eschweiler vor.
Dass sowohl im Rheinland als auch im Saarland der gleiche klassizistische Rundbogenstil vorkommt, ist nicht erstaunlich, da beide größtenteils zu Preußen gehörten. Hier hatte sich von Berlin und den Traditionen Schinkels ausgehend ein "romantischer Klassizismus" gebildet. Zudem haben Rhein- und Saarland sich sicher gerade bei Bahnhofsbauten gegenseitig beeinflusst, da beide durch die Rhein-Nahe-Bahn direkt miteinander verbunden waren.
Nicht nur im Hinblick auf die Gebäudeform ist Merzig typisch für viele saarländische Empfangsgebäude des Rundbogenstils: vertikale Gliederungselemente wie Pilaster oder Lisenen werden gar nicht oder nur äußerst zurückhaltend verwendet. Horizontale Elemente sind fast immer zu finden. Dabei sind Sohlbankgesimse am beliebtesten und oft auch stärker ausgeprägt als die geschosstrennenden Gurtgesimse. Auch die Bänderquaderung im Erdgeschoss des Merziger Empfangsgebäudes zeigt die ausschließlich horizontale Betonung.
Für den Bahnhofsbau generell untypisch ist hingegen die Heraushebung der Mittelachsen und der einzelne Eingang an der Straßenfassade. Meistens kommen in den Mittelrisaliten Arkaden vor, die die Fassaden für den Besucher öffnen sollen. Die prominente Betonung des Mittelfensters des Obergeschosses ist ein barockes Element, das am zweiten St. Ingberter Empfangsgebäude wieder auftauchen wird.