Stilentwicklung
Zwar ist im saarländischen Bahnhofsbau fast jeder historistische Stil vertreten, jedoch wurde der Rundbogenstil sicher am häufigsten angewandt. Dieses Verhältnis würde sich höchstwahrscheinlich noch mehr zu Gunsten des Rundbogenstils verschieben, wenn man auch die nicht mehr erhaltenen Gebäude einbeziehen würde. Denn gerade diese - naturgemäß oft die ältesten Bauten - entstanden in der Blütezeit des Rundbogenstils. Als Beweis dafür kann man zum Beispiel die erwähnten ersten Empfangsgebäude von Völklingen und Dillingen anführen, die gemeinsam mit dem Merziger Bau 1858 im Rundbogenstil errichtet worden sind. Sicher haben auch die anderen bedeutenderen Bahnhöfe dieser Linie, wie Luisenthal, Saarlouis und Mettlach, Empfangsgebäude im Rundbogenstil besessen, die später ersetzt wurden. dass gerade der Rundbogenstil im Bahnhofsbau so erfolgreich war, ist einleuchtend, wenn man bedenkt, dass die ersten Bahnhofsbauten Deutschlands gleichzeitig mit diesem Stil entstanden sind. Zudem gab es für Empfangsgebäude keine direkten Vorläufer, die Hinweise auf eine Stilwahl hätten geben können. So griff man den "neuen" Rundbogenstil auf, der sich überdies aufgrund seiner theoretischen Grundlagen, wie Schlichtheit und Funktionalität, gerade bei Bahnbauten anbot. Denn diese mussten in großer Zahl errichtet werden, sie mußten funktional, langlebig und preiswert sein, durften aber nicht ärmlich wirken - alle diese Forderungen erfüllte der Rundbogenstil. Die stilgeschichtliche Entwicklung der Empfangsgebäude innerhalb des Rundbogenstils lässt sich im Saarland nur schwer erfassen, weil zu wenige Gebäude erhalten sind. So fallen in den Zeitaum bis 1870, also in die Blütezeit des Rundbogenstils, nur fünf der behandelten Bauten - nicht genug, um eine Entwicklung aufzeigen zu können. Hinzu kommt, dass neben dem Stil noch zahlreiche andere Faktoren, wie z.B. die Größe und Bedeutung eines Ortes, die Gestalt eines Empfangsgebäudes maßgeblich beeinflussen. Zudem muss man berücksichtigen, dass das heutige Saarland im 19. Jahrhundert teilweise zu Preußen und teilweise zur bayerischen Pfalz gehörte und sich in jedem dieser Länder der Rundbogenstil eigenständig entwickelte. Außerdem galten für die nicht öffentlichen Grubenbahnhöfe andere Kriterien, so dass diese etwas außerhalb der Entwicklung stehen. Folglich müssen Unterschiede nicht notwendig stilistisch bedingt sein. Trotzdem lassen sich natürlich verschiedene Gestaltungsweisen erkennen. Das erste saarländische Empfangsgebäude in Bexbach war ein unrepräsentativer Rechteckbau, bei dem die schlichte Architektur der übrigen Empfangsgebäude der Pfälzischen Ludwigsbahn übernommen worden war. Im preußischen Merzig und 1877 auch in Ottweiler erbaute man die Empfangsgebäude dagegen in einem klassizistischen Rundbogenstil, wie er sich in Berlin seit Schinkel entwickelte hatte. Der erste St. Ingberter Bau von 1867 repräsentiert einen Rundbogenstil ohne klassizistische Elemente, ist aber von der Bauform her nicht mehr so einfach wie Bexbach. Stilistisch auf die gleiche Stufe kann man die Grubenbahnhöfe Heiligenwald-Itzenplitz und Von-der-Heydt stellen, die jedoch Besonderheiten wie Asymmetrie und fehlende Hauptfassaden aufweisen, die auf ihre Sonderstellung zurückzuführen sind. Der Rundbogenstil hat noch lange nach seinem eigentlichen Ende um 1870 im Saarland Anwendung gefunden. Dies entspricht der gegenwärtig herrschenden Auffassung, wonach sich kein Stilwandel von heute auf morgen und in allen Bereichen gleichzeitig vollzieht. Generell wurde in der Architektur bei wenig repräsentativen Bauten auf das Bewährte zurück gegriffen, so dass die Entwicklung hier meist dem jeweils aktuellen Trend hinterherhinkte. Die oben erwähnten Gründe haben zudem gezeigt, dass sich der Rundbogenstil für Bahnhofsbauten besonders eignete, weshalb er auch noch lange verwendet wurde. Die nach 1870 entstandenen Empfangsgebäude weisen denn auch keine Weiterentwicklung auf, sondern übernahmen Form und Stil ihrer Vorgänger. Das Empfangsgebäude in Kleinblittersdorf ist sogar der typische Vertreter des Rundbogenstils, obwohl es erst 1885 errichtet wurde. In Niederwürzbach folgt die Gleisseite noch ganz dem Rundbogenstil, während die Architekturform der gegenüberliegenden Seite aus dem Rahmen fällt, was aber wohl mit der spezifischen Lage des Empfangsgebäudes zusammenhängt. Parallel zum Rundbogenstil existierte die Neugotik, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zusammen mit der romantischen Bewegung von England aus auf den Kontinent überschwappte. Zunächst nur bei den Parkarchitekturen der englischen Landschaftsgärten angewendet, begann die Neugotik seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem bei Sakralbauten eine wichtige Rolle zu spielen. Im Bahnhofsbau eher selten, ist sie im Saarland in den fünfziger Jahren mit dem außergewöhnlichen Empfangsgebäude von Beckingen vertreten. Dieses ist einmalig im Saarland und lässt sich nur mit dem ersten Saarbrücker Bau vergleichen. Dessen Zweiturmfassade hat vielleicht richtungsweisend auf die Bauform in Beckingen gewirkt. Vielleicht erklärt auch die Ruine der benachbarten mittelalterlichen Siersburg die Stilwahl. In Beckingen wählte man allerdings den Typ einer mittelalterlichen Burg im Stil der englischen Tudorgotik. Dass die englische Neugotik gerade in der Bahnhofsarchitektur so beliebt war, hängt womöglich mit dem starken Einfluss des englischen Eisenbahnwesens zusammen, der fast bis zum Ende des Jahrhunderts anhielt. Trotz des andauernden Rundbogenstils vollzog sich aber auch im Saarland in den siebziger Jahren ein Wandel, der in Deutschland durch den Sieg im deutsch-französischen Krieg und die Gründung des Deutschen Reiches 1871 ausgelöst wurde. Nun stand als besonders deutsch angesehene Architektur hoch im Kurs, aber auch im besonderen Maße repräsentative Stile, wie die italienische Renaissance und der französische Barock. Ein Beispiel hierfür ist das zweite St. Ingberter Empfangsgebäude von 1879, das die italienische Renaissance mit barocken Formen verbindet. Das von den behandelten Empfangsgebäuden vielleicht repräsentativste spiegelt den erst durch die Bahnverbindungen ermöglichten wirtschaftlichen Aufschwung wider. Dies und die besondere Lage an der bayerisch-preußischen Grenze führte wohl zu der Stilwahl, die im Saarland einmalig blieb. Ebenfalls in Renaissanceformen wurde das Empfangsgebäude im bayerischen Gersheim 1885 errichtet. Hier dienten allerdings Paläste der florentinischen Frührenaissance als Vorbilder. Dieser Stil hatte bereits den bayerischen Rundbogenstil beeinflusst, dessen Architektur im Gersheimer Empfangsgebäude nachwirkte. In Gersheim und Breitfurt werden in der Verwendung der Karniesbogen jedoch auch regionale Traditionen sichtbar. Daneben tauchte nun an den Empfangsgebäuden der Fischbachtalbahn Fachwerk auf - nicht als billiges Baumaterial für Provisoriumsbauten, sondern als bewusstes dekoratives Element. Nachdem Fachwerk schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, im Zusammenhang mit der englischen und deutschen Romantik, wieder aufgetaucht war , erlebten Holzbauten nach 1871 erneut eine Hochkonjunktur. Zwar wurden sie auch aus Kostengründen errichtet, erfüllten aber zugleich die Forderung nach einem nationalen Stil. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Aufkommen des Heimatstils, der bis ins 20. Jahrhundert hinein andauerte. Dieser hatte die Volks- und Bauernkunst zum Inhalt und wurde demzufolge hauptsächlich an kleinen, unrepräsentativen Gebäuden angewandt. Im Saarland zeigt das zweite Dillinger Empfangsgebäude Einflüsse des Heimatstils. Eine andere Strömung erscheint mit dem Empfangsgebäude in Auersmacher 1886: die Backsteinarchitektur. Bereits von Schinkel wiederentdeckt, wurde sie sowohl im Rundbogenstil als auch in der norddeutschen Neugotik aufgegriffen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts belebten die Hannoversche Schule unter Conrad Wilhelm Hase und die unter ihrem Einfluss stehende rheinländische Entwicklung die Ziegelarchitektur im Sinne einer "nordischen" Gotik und Renaissance neu. Tatsächlich ausgeführt wurden im Rheinland aber vor allem sehr einfache Backsteinbauten und sogenannte "Materialbauten" oder "malerische Bauten". Diese zeichnen sich durch eine Verwendung von polychromen Ziegeln aus. Davon beeinflusst, entstanden im Saarland zahreiche Empfangsgebäude als Backsteinbauten: in Völklingen 1893/94 in außergewöhnlicher Verbindung mit dem Bautyp eines Barockschlosses mit drei Risaliten; in Hassel 1895 als Materialbau ganz im Sinne der malerischen Architektur des Rheinlands; entlang der Hochwaldbahn 1896/97 bis 1900 als Typenbauten unter Verwendung der Formen, die auch an gleichzeitigen rheinländischen Empfangsgebäuden auftauchen. Im Saarland einmalig blieb das Luisenthaler Empfangsgebäude von 1898. Dieser Bau im Stil der norddeutschen Backsteingotik mit Renaissance-Anklängen wurde ebenfalls von der rheinländischen Entwicklung beeinflusst. Die Neugotik, die in den siebziger und achtziger Jahren weniger angewandt worden war, erlebte um diese Zeit wieder allgemein einen Aufschwung. Um 1900 ging sie allerdings endgültig zu Ende. Die "deutsche" Neurenaissance entwickelte sich parallel zur italienischen Neurenaissance, erreichte aber erst gegen Ende des Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Das Empfangsgebäude von Dillingen, das heute allerdings stark verändert ist, ist ein Beispiel für die Verwendung "deutscher" Renaissanceformen. Allerdings tauchen hier auch Elemente aus der gotischen Sakralbaukunst und der bäuerlichen Architektur auf. Daneben tauchen noch eine Reihe von Empfangsgebäuden auf, die reine Nutzbauten sind und allenfalls Anklänge an die besprochenen Stile zeigen. Das Gebäude in Mettlach fällt zwar durch ein klassizistisches Fenster auf, ist jedoch mit Sichtmauerwek und Rechteckfenstern ansonsten sehr schlicht gestaltet, so dass eine spätere Veränderung hinsichtlich des Fensters angenommen werden kann. Das Empfangsgebäude von Auersmacher wurde bereits im Zusammenhang mit den Backsteinbauten genannt, gehört aber ebenfalls hierher, da das Material hauptsächlich aus Kostengründen verwendet wurde. Auch die Empfangsgebäude von Bierbach und Merchweiler sind wegen ihrer Schlichtheit keinem der besprochenen Stile zuzuordnen. Interessant ist jedoch das Merchweiler Abortgebäude, das Ansätze einer "funktionalistischen" Architektur zeigt.