Beckingen

Nachdem die Strecke von Saarbrücken nach Merzig am 16. 12. 1858 eröffnet worden war, erhielt der kleine Ort Beckingen bald ein Empfangsgebäude, das auch heute noch außerhalb des Dorfes liegt. Die Bundesbahn Saarbrücken gibt das Jahr 1890 als Erbauungsdatum an. Dies wird jedoch eindeutig durch eine Abbildung widerlegt, die bereits 1864 veröffentlicht wurde.

Der Grundriß zeigt im Erdgeschoss eine Vorhalle, zwei nach Klassen getrennte Warteräume neben dem Kartenhäuschen, jeweils mit einem direkten Zugang zum Bahnsteig und einen Raum zur Gepäckaufgabe mit Telegraf, ebenfalls mit Ausgang zum Bahnsteig. Der Treppenturm neben dem Eingang führte ins erste Obergeschoss zur Wohnung des Bahnhofsvorstehers. In die Uhrwerkkammer im obersten Turmgeschoss gelangte man über eine Leitertreppe.

Wieder ist der Grundriss sehr klar und übersichtlich gegliedert und erfüllt alle Forderungen, die auch an sehr kleine Empfangsgebäude gestellt wurden. Sinnvollerweise hat man mehrere Funktionen in einem Raum zusammengefasst, anstatt noch mehr kleine Zimmer zu schaffen. Die Vorhalle diente als Verteiler; von hier konnten die Fahrgäste sofort alle für sie wichtigen Räume sehen.

Die Toilettenanlage war wohl wieder ausgegliedert.

Wegen der geringen Frequentierung des Bahnhofs wurden die öffentlichen Räumlichkeiten in jüngerer Zeit auf die Halle mit Fahrkartenausgabe und eine Gaststätte beschränkt, die nur noch den südlichen, angebauten Teil einnehmen, während der Rest die Diensträume beherbergt.
Der ursprüngliche Außenbau besaß die Gestalt einer mittelalterlichen Burganlage. Der zwanzig Meter hohe Uhrturm mit hohem Sockel, Schießschartenfenstern und abschließendem Zinnenkranz dominierte das Gebäude. Über quadratischem Grundriss erbaut, wurden die freistehenden Obergeschosse achteckig weitergeführt.
Die beiden südlich angrenzenden eingezogenen Anbauten - zwei- und eingeschossig - besaßen traufständige Satteldächer, die an den Schmalseiten mit Treppengiebeln abschlossen. Unter den Dachtraufen und an den zwei Schornsteinen befanden sich ebenfalls Zinnen. Die Dächer waren offensichtlich mit Ziegeln gedeckt, deren grobe Struktur das Äußere stark mitbestimmte.
Das Gebäude besaß unterschiedlich breite, rechteckige Einfach- und Zwillingsfenster mit Sohlbänken und "Fensterverdachungen" in Form von profilierten Leisten, die seitlich nur ein Stück heruntergezogen sind und dann "abknicken". Das Doppelportal besaß die gleichen Verdachungen über Tudorbogen. Auf dem Aufriss sind allerdings Dreiecksabschlüsse angegeben.
Entsprechend dem Charakter einer Wehranlage war der Bau nicht verputzt.
Eine zweiarmige Treppenanlage mit abschließender Balustrade führte von der Straße zu dem höhergelegenen Gebäude.

Der Turm war übrigens kein überflüssiger Zierat, sondern wegen der damals noch gebräuchlichen, mechanischen Bahnhofsuhren sogar unverzichtbar. Die Uhrgewichte mussten von Hand hochgezogen werden und je nach Häufigkeit des Aufzugs richtete sich auch die benötigte Turmhöhe.

Das Empfangsgebäude in Beckingen wurde im Laufe der Zeit stark verändert. Ein Großteil dieser Veränderungen wurde vielleicht 1890 durchgeführt, denn unter diesem Baujahr wird das Empfangsgebäude bei der Bundesbahn Saarbrücken geführt.
Eine Aufnahme von 1930 zeigt den damaligen Zustand: der eingeschossige, zweiachsige Südteil wurde um ein Dachgeschoss aufgestockt und nach Süden hin um vier Achsen erweitert. Die Zinnen wurden dabei natürlich zerstört. Die mittleren zwei der nun sechs südlichen Achsen wurden sowohl auf der Straßenseite, als auch auf der Gleisseite risalitartig vorgebaut und mit Dreiecksgiebeln bekrönt, die heute nicht mehr vorhanden sind. Die südliche Schmalseite erhielt wieder Zinnen. Im Norden wurde ein weiterer eingeschossiger Anbau mit Satteldach angefügt.
Auf der Aufnahme ist noch ein niederer Anbau vor dem Eingangsbereich auf der Straßenseite zu sehen, der wohl als Windfang diente und heute verschwunden ist.
Im Zweiten Weltkrieg wurden die Obergeschosse des Turmes zerstört und nicht wieder aufgebaut. Die zinnenbewehrten Kamine und die ursprüngliche Ziegeleindeckung gingen vermutlichzur selben Zeit verloren.
Neueren Datums ist das angebaute Stellwerk an der Gleisseite. Das ebenfalls später angebaute Schutzdach nimmt leider keine Rücksicht auf die Fassade der Gleisseite.
Bei den älteren Umbauten hat man auf den vorhandenen Stil zurückgegriffen und so das Gebäude zwar stark verändert, aber das einheitliche Bild nicht zerstört. Die baulichen Veränderungen wären ohne die Originalrisse nicht mehr zu erkennen. Heute ist das Gebäude jedoch in einem bedauernswerten Zustand. Zu dem langsamen Verfall gesellen sich noch einige wenig liebevolle Erhaltungsversuche - so wurden die ehemals mit Dächern geschmückten Stufen des Treppengiebels aus Beton neu gegossen.

Erhalten sind noch an der Straßenfassade die rechteckigen, profilierten Fenster mit den oben beschriebenen Verdachungen. Gegenüber dem alten Aufriss sind sie heute jedoch weiter heruntergezogen.
Diese Form kommt in der Gotik Englands vor und wird im 19. Jahrhundert von der englischen ("Gothic Revival") und deutschen Neugotik wieder aufgegriffen.
Weiter erhalten ist ein Teil der abgeschrägten Dachzinnen, die über einem Gesims auf Konsolen ruhen. Dieses Gesims bricht an der Ecke um und folgt auf der Schmalseite der Giebelschräge.
Solche vorkragenden Zinnen kommen ebenfalls seit dem späteren Mittelalter vor. Bereits zu dieser Zeit hatten sie eher dekorative als praktische Funktionen.
Interessant sind auch die Zwillingsfenster der Gleisseite: diese besitzen Tudorbogen, deren profilierte Rahmen bis zum Boden reichen und einen Rechteckrahmen, wie er schon an derStraßenfassade vorkam. In den dadurch entstandenen Eckfeldern befinden sich Blütenornamente. Die gleiche Form hatte sicher auch das Doppelportal der Straßenfassade. Der Tudorbogenstammt aus der englischen Spätgotik und wurde bis ins frühe 17. Jahrhundert (im sogenannten Tudorstil) angewandt.
Der Treppengiebel kommt vor allem bei öffentlichen Gebäuden der nordischen Backsteingotik und Renaissance, aber auch weniger häufig an englischen "castles" vor.
Die quadratischen Fensterchen der Straßenfassade, die 1890 entstanden sind, werden, ähnlich den älteren Fenstern, von dem "hochgeklappten" Gurtgesims gerahmt. An dem nördlichen Anbaubefinden sich gotisierende Elemente, die an Figurennischen erinnern.
Gotisierend waren übrigens auch die ursprünglichen Ziegeldächer, die an verschiedenfarbige Dacheindeckungen mit teppichhafter Wirkung erinnern - ein durchaus übliches Gestaltungsmittelan gotischen Gebäuden. Ob auch in Beckingen polychrome Ziegel verwendet wurden, ist nicht bekannt.
Ebenfalls erhalten ist die Balustrade, die die heute veränderte, ehemals zweiarmige Treppenanlage abschließt. Diese ist aus der barocken Schlossarchitektur übernommen und passt deshalbnicht so recht zu dem Typ der mittelalterlichen Burg.

Im Bahnhofsbau blieben solche mittelalterliche Burgen verhältnismäßig selten, aber an Türmen verwendete man öfters einzelne Elemente, wie z. B. Zinnen. Ein Beispiel ist der nicht erhaltene,erste Saarbrücker Bahnhof von 1852, der die Gebäudeform in Beckingen sicher stark beeinflusst hat. Dieser besaß eine Zweiturmfassade mit zinnenbewehrten Türmen und Eckrisalite mitvorkragenden Dachzinnen und rundbogigen Fenstern.
Noch ein Wort zur Zweiturmfassade, die im Saarland einmalig blieb, in Deutschland aber sehr verbreitet war. Wie bereits erwähnt, wurde schon in den dreißiger Jahren für Bahnhöfe ein"Portal mit Türmen" gefordert. Seit den vierziger Jahren kam es zu einer Reihe von Zweiturmfassaden, meistens mit einem durch Arkaden geöffneten Mittelblock. Dabei waren diewuchtigen Empfangsgebäude mit Festungscharakter zwar nicht sehr häufig, aber vor allem in Preußen durchaus nicht ungewöhnlich - auch zur Zeit des Rundbogenstils. Beckingen undSaarbrücken standen also trotz ihrer Sonderstellung im Saarland in einer festen Tradition.

Eine weitere Anregung zur Bauform in Beckingen hat vielleicht auch die benachbarte Ruine der Siersburg (bzw. Siersberg) gegeben, deren quadratischer Bergfried sich heute noch alseinziger Rest der mittelalterlichen Burg auf einem Hügel über der Niedmündung erhebt.
Am Beckinger Empfangsgebäude bemerkenswert ist aber die Verwendung englischer Tudorformen, die zu dieser Zeit in Deutschland eigentlich schon nicht mehr gebräuchlich waren.
Vergleichbar ist hier das 1853-57 entstandene Empfangsgebäude Aachen-Templerbend, das neben Zinnenkränzen und Türmen exakt die gleichen, teilweise gekuppelten Rechteckfenster mit "englischen" Fensterverdachungen besaß. Vermutlich hat dieser Bau in Beckingen richtungsweisend gewirkt, was nicht ungewöhnlich wäre, da das Rheinland in mancher Hinsicht diesaarländische Bahnhofsarchitektur beeinflusst hat.

Der Grund, weshalb zu diesem Zeitpunkt entgegen dem allgemeinen Trend bei Bahnhofsgebäuden noch "englische" Formen verwendet wurden, ist meines Erachtens in dem starken Einfluss zusuchen, den der englische Eisenbahnbau noch lange auf den Kontinent ausübte.

Typisch für viele kleinere Empfangsgebäude, nicht nur in Deutschland, ist die Asymmetrie, die sich allerdings erst nach 1870 allgemein im Bahnhofsbau durchsetzte. Dass sie hier bereits sofrüh erscheint, hängt mit dem Bautyp der mittelalterlichen Burg zusammen, dessen romantischem Charakter eine asymmetrische Anlage eher entsprach. Außerdem ist die Asymmetrie auch inder englischen Neugotik typisch.

Noch ein Wort zum Grundriss: Erstaunlicherweise sind auch hier Formen zu sehen, die auf eine gotisierende Getaltungsweise schließen lassen. Diagonale Vorsprünge erinnern an Strebepfeiler, spitz zulaufende Mauern an Bastion. Im Wartesaal k befand sich offenbar eine Figurennische.

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